Eine Vision von einer rund 20-minütigen Zugfahrt durch das Brenner-Massiv: Ein neuer Tunnel, der die Alpen unterqueren soll. Während Österreich und Italien zügig voranschreiten, gibt es in Deutschland Stillstand – auch wegen des Widerstands von Anwohnern. Tirol reagiert auf eine besondere Art und Weise darauf.

Es ist gewissermaßen eine Retourkutsche Österreichs gegen Deutschland: Deutschland verzögert den Fortschritt, daher bremst Österreich deutsche Lastwagen aus. Der Hintergrund: Österreich und Italien arbeiten bis 2032 am Brenner-Basistunnel, einem Jahrhundertprojekt. Es wird der längste Eisenbahntunnel der Welt sein und ist für den Frachtverkehr von enormer Bedeutung. Deutschland soll seinen Beitrag dazu leisten, indem es in Oberbayern eine neue Bahnstrecke als Zulieferweg für den Tunnel errichtet.

Im Gegensatz zu Italien und Österreich, wo seit vielen Jahren beidseitig durch die Alpen gebohrt wird, hat sich in Deutschland bisher fast nichts getan. Bürgerinitiativen von Anwohnern, unterstützt von Grünen- und CSU-Politikern in Oberbayern, haben den Bau der notwendigen Strecke bisher verhindert.

Das ist die Retourkutsche: Weil Deutschland den Bau der Strecke zum Brenner-Basistunnel verzögert, drosselt das österreichische Bundesland Tirol – das an Oberbayern grenzt – den Lkw-Verkehr aus Deutschland.

An Tagen mit absehbar hohem Verkehrsaufkommen dürfen pro Stunde nur 250 Lastwagen über die Grenze zwischen dem oberbayerischen Kiefersfelden und Kufstein im österreichischen Tirol fahren. Österreich nennt dieses Verfahren “Blockabfertigung”. Auf der deutschen Seite führen diese Blockabfertigungen regelmäßig zu kilometerlangen Staus auf den Autobahnen A8 und A93 zwischen München und Kufstein. Die Fracht kann nicht auf die Schiene ausweichen, da die Kapazitäten dafür nicht ausreichen.

Und das wird auch noch lange so bleiben. Denn: Der deutsche Abschnitt zum Brenner-Basistunnel wird erst lange nach Fertigstellung des Tunnels fertiggestellt werden. Dadurch wird der Tunnel anfangs weniger zur Entlastung der Straßen beitragen, als er könnte – alles aufgrund der langsamen Fortschritte in Deutschland.

Im nächsten Jahr wird das österreichische Bundesland Tirol die stauverursachende Blockabfertigung fortsetzen. Die Österreicher haben 24 Tage mit Blockabfertigung angekündigt, der erste am 8. Januar. “Was Tirol macht, ist Erpressung”, ärgerte sich die Bundestagsabgeordnete Daniela Ludwig bei einer Veranstaltung ihres CSU-Kreisverbands Rosenheim vor etwa 300 Zuschauern.

“Meine Kritik an der Blockabfertigung bleibt bestehen”, sagt sie jetzt auf Anfrage der WELT. Ludwig ist eine der führenden Unterstützerinnen der Gegner des Projekts.

Ludwig erklärt, die Bahn sei den Anwohnern entgegengekommen, “aber wir sind noch nicht am Ziel”. Es geht um immerhin 60 Kilometer Neubaustrecke auf deutscher Seite, das sei “keine Kleinigkeit”. “Diejenigen, die uns kritisieren, dass wir hier nicht sofort alles absegnen, sollten sich vorstellen, sie hätten die Trasse in ihrem Ort oder fast direkt vor ihrer Haustür”. Außerdem profitiere die bayerische Region “in keiner Weise”. Sie trage nur die Lasten: Die Landschaft werde zerschnitten, landwirtschaftliche Flächen zerstört und der Tourismus beeinträchtigt.

Was Ludwig nicht erwähnt: Heute rollt der Frachtverkehr über überlastete Straßen durch idyllische oberbayerische Gemeinden. Umgehungsstraßen sind selten; Protest-Initiativen dagegen werden meist von den Grünen und den regionalen CSU-Verbänden unterstützt.

Bei der Bahn wurde mitgeteilt, dass es derzeit einen beinahe fertigen Entwurf für die neue Bahntrasse zum Brenner-Tunnel gibt, der größtenteils aufwendig unterirdisch geplant ist. Bis zum kommenden Januar sind jedoch Einsprüche dagegen möglich, von denen vermutlich Gebrauch gemacht wird. Ludwig erklärt, dass die Bahn bereits auf die Proteste reagiert hat, beispielsweise mit dem Vorhaben, die Gleise im Inntal in einem Tunnel zu verlegen. “Aber wir sind noch nicht zufrieden. Das bisher Vorgelegte reicht uns jedenfalls nicht.”

Grundsätzlich herrscht Einigkeit, auch bei Ludwig, die betont: “Eine funktionierende Schienenverbindung über den Brenner, insbesondere für den bedeutenden Güterverkehr, ist dringend erforderlich.” Das sehen alle so, besonders jedoch die Tiroler, deren Gebiet täglich von einer Lawine an Lastwagen durchquert wird.

Tirols Verkehrs-Landesrat René Zumtobel beklagt, dass im letzten Jahr 2,5 Millionen Lastwagen die Brennerstrecke zwischen Deutschland und Italien befahren haben, “mehr als auf allen anderen Alpenpässen in Europa zusammen”. In Österreich werden Landesminister als “Landesrat” bezeichnet. Zumtobel erklärt: “So können wir nicht weitermachen. Es geht auch um die Gesundheit der Menschen und darum, den Verkehr optimal zu verteilen.”

Dafür wird eine neue Strecke benötigt, da die bisherige bereits jetzt überlastet ist. Die zweispurige Autobahnverbindung von Rosenheim in Deutschland über Innsbruck in Tirol bis Bozen in Südtirol reicht nicht aus. Das gilt erst recht für die Bahnverbindungen ab München in südlicher Richtung. Güter- und Personenzüge müssen sich auf der deutschen Seite durch eine zweigleisige und eine eingleisige Strecke bis Rosenheim quetschen.

Die eingleisige Strecke ist jene, auf der 2016 bei Bad Aibling zwei Züge kollidierten und zwölf Menschen starben. In Rosenheim teilt sich die Strecke. Richtung Osten geht es weiter bis Salzburg und Wien. Der südliche Abzweig – um den es hier geht – führt über Kiefersfelden und Kufstein nach Innsbruck und über den Brenner nach Italien.

2006 begannen Österreich und Italien mit den Bauarbeiten für den sogenannten Brenner-Basistunnel, der die neue Verbindung herstellen soll. Der Tunnel soll nicht nur die Kapazität erweitern, sondern auch die Reisezeit verkürzen und wirtschaftlicher gestalten. Bisher müssen die Züge auf einer Passhöhe von 1370 Metern langsam fahren, schwere Güterzüge benötigen sogar zwei Lokomotiven. Der Tunnel hingegen verläuft nahezu horizontal. Die maximale unterirdische Höhe beträgt 790 Meter.

220 Tunnelkilometer werden entstehen

Österreich und Italien machen beide Fortschritte bei den Arbeiten. Zwar hat sich das Eröffnungsdatum um vier Jahre verschoben, ursprünglich war 2028 geplant. Im Vergleich zu den Verzögerungen bei deutschen Großprojekten ist das jedoch geringfügig.

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