Kaum ein Finanzminister hat Deutschland und Europa so stark geprägt wie Wolfgang Schäuble – seine achtjährige Amtszeit hat bis heute Auswirkungen. Eine Analyse.

Wolfgang Schäuble war erst einige Monate im Amt des deutschen Finanzministers, als er schon wenig Freude an seiner Aufgabe zu haben schien. Zumindest schien es so, als er während eines langen Fluges nach Südkorea die mitreisenden Journalisten zu sich bat, in den vorderen Teil des großen Regierungsfliegers, der ausschließlich den Ministern und ihren engsten Mitarbeitern vorbehalten ist. Als man ihn fragte, ob er sich auf die internationalen Treffen, die sein neues Ministeramt mit sich bringt, freue, zuckte der neue Minister nur mit den Schultern und verzog missmutig das Gesicht.

In den massiven Sitzen des Regierungsfliegers saß Schäuble klein und zierlich. Das Dröhnen der Maschine ließ seine ohnehin schwer zu verstehende Stimme fast unhörbar werden. Er versuchte zu erklären, was er den Kollegen der anderen G20-Staaten in Pusan, Südkorea, vermitteln wollte – er sprach über den Wert solider Staatsfinanzen und die Bedeutung niedriger Schulden. Doch seine Botschaft kam kaum an, weder akustisch noch inhaltlich.

Kaum war die erste Finanzkrise eingedämmt, entfachte bereits die nächste in Europa. Diesmal war es eine Vertrauenskrise in den Zusammenhalt des Euro. Griechenland wurde gerade mit Ach und Krach und nach langer Weigerung Deutschlands mit insgesamt 110 Milliarden Euro vor der Staatspleite gerettet. Aber bereits standen Spanien, Portugal und Irland vor ähnlichen Problemen. Die USA drängten auf eine energische, umfassende europäische Lösung. Banken und Finanzmärkte ebenso, genauso wie der Internationale Währungsfonds in Washington.

In jener kurzen Stunde im Flugzeug wurde Schäuble von dutzenden Fragen überflutet: Warum Deutschland sich weigerte, gemeinsam mit anderen Euro-Staaten für Kredite zu haften? Welchen Nutzen eine strenge Sparpolitik in Griechenland haben solle? Wie er die Probleme in Spanien, Irland und Portugal lösen wolle? Doch Schäuble saß einfach da, schüttelte den Kopf und wurde zunehmend einsilbig.

Damals war Schäuble bereits gezeichnet von hartnäckigen und schmerzhaften Wunden, die ihn wenige Monate später beinahe zum Rücktritt zwangen – in diesem Schicksalsjahr Europas, das auch ein wenig zu Schäubles eigenem Schicksal werden sollte. Acht Jahre blieb er Bundesfinanzminister, nur acht Jahre in einer 50-jährigen Politikerkarriere, die bereits zuvor voller historischer Ereignisse und Ämter war. Doch diese acht Jahre als Finanzminister prägen Deutschland und Europa noch heute – und sie begannen im Frühjahr 2010.

Zwei Ereignisse sind maßgebend für Schäubles Amtszeit: Die Eurokrise von 2010 bis 2015 und die Stabilisierung der deutschen Staatsfinanzen. Zum Abschied aus dem Finanzministerium Ende 2016 stellten sich seine Mitarbeiter komplett in Schwarz gekleidet auf dem Hof des Ministeriums auf und bildeten eine schwarze Null – Schäuble, der Mann der schwarzen Null, keine neuen Schulden, das war sein Erbe. Die meisten Nachrufe nach der Nachricht von Schäubles Tod stimmten dem zu.

Wolfgang Schäuble und die Wirtschaftsexperten

Der in den USA lehrende deutsche Ökonom Rüdiger Bachmann sprach einen anderen Ton an. Er würdigte zwar Schäubles “große Verdienste”, gab jedoch auch zu bedenken: “Zur Wahrheit gehört auch, dass er von Finanz- und Wirtschaftspolitik wenig verstand und mit ihr in Südeuropa großes und unnötiges Leid verursachte.” Das fasst Schäubles Bilanz als Finanzminister vielleicht treffender zusammen.

Bereits in Südkorea machte Schäuble keinen Hehl daraus, was er von Ökonomen hielt: recht wenig. Der damalige US-Finanzminister Timothy Geithner, ein ehemaliger Banker und in jeglicher Hinsicht das Gegenteil von Schäuble, drängte bei dem G20-Treffen Deutschland dazu, den Weg zu einer Schuldenunion in Europa freizumachen – Schäuble ignorierte dies. Die Gesetzmäßigkeiten der Märkte, das Zusammenspiel von Angebot, Nachfrage, Preisen und Anreizen waren ihm zwar nicht fremd (er hatte neben seinem Jurastudium auch ein paar VWL-Kurse belegt), doch interessierten sie ihn nicht sonderlich. Schäuble war tief davon überzeugt, dass der Staat Regeln aufstellen und diese verlässlich kommunizieren müsse. Den Rest sollten andere regeln.

Krisenmanagement war ihm aus Prinzip suspekt, da es oft bedeutete, dass Prinzipien in Krisenzeiten wenig Bedeutung hatten. In einer Rede im Jahr 2017 verteidigte er seine Politik mit den Worten: “Ganz entscheidend (ist) das Vertrauen in die Verlässlichkeit und Nachhaltigkeit von Politik, auch in die Finanzpolitik und in die Nachhaltigkeit öffentlicher Haushalte und in die sozialen Sicherungssysteme. Deswegen ist solide Finanzpolitik eine Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum und dafür, dass es den Menschen besser geht.”

Meister der Schuldenbremse

Der CDU-Politiker folgte in erster Linie den Grundsätzen der deutschen Ordnungspolitik, einer besonderen Disziplin in der Ökonomie. Seine Ansicht war, dass der Staat streng und sparsam sein sollte. Diese Linie verfolgte Schäuble lange Zeit, besonders in Europa noch mehr als im eigenen Land. Obwohl er akzeptierte, dass Kanzlerin Angela Merkel während der Eurokrise immer wieder Kompromisse schloss und Institutionen wie den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) schuf, der finanzielle Hilfe für klamme Eurostaaten bereitstellte.

Bei den Verhandlungen der Finanzminister in Brüssel war Schäuble der harte Verhandler, vor dem viele andere Ministerkollegen Respekt hatten. Zuhause in Deutschland war er zwar nicht der Initiator der Schuldenbremse, jedoch beherrschte er sie. Im Laufe seiner Amtszeit senkte er das laufende Staatsdefizit nicht nur auf die maximal geforderten 0,35 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung, wie im Grundgesetz festgelegt, sondern tatsächlich auf Null. Sein kleines, schmutziges Geheimnis dabei war jedoch, dass er dafür nicht viel tun musste – er hatte einfach Glück, weil die Wirtschaft und damit die Steuereinnahmen in diesen Jahren gut liefen. Dennoch wurde er zum Gesicht der “schwarzen Null” und war stolz darauf, als einziger Finanzminister über mehrere Jahre hinweg ohne neue Schulden auszukommen.

Die Konsequenzen jedoch werden Deutschland noch Jahrzehnte beschäftigen. Die geschwächte öffentliche Verwaltung, der Mangel an Digitalisierung und die marode Infrastruktur von Autobahnbrücken bis hin zur Bahn: All dies lässt sich nicht ausschließlich auf Schäubles “schwarze Null” zurückführen, jedoch auf eine Grundeinstellung, die besagt, dass der Staat schlank sein sollte. Die Philosophie vernachlässigt strukturell die Vorstellung, dass ein Staat seine Infrastruktur erhalten, erneuern und ausbauen sollte, um die Grundlage für künftiges Wirtschaftswachstum zu schaffen. “Schäubles Null hat null Sinn”, kommentierte bereits im Jahr 2016 der gewerkschaftsnahe Ökonom Sebastian Dullien. “Ein Unternehmenschef, der bei niedrigen Schulden und Zinsen hoch rentable Investitionen ablehnt, würde aus dem Amt gejagt.” Dennoch behielt Schäubles Haltung auch unter seinem Nachfolger Olaf Scholz (SPD) Bestand – zumindest bis zum Beginn der Pandemie Anfang 2020.

Die Debatte zwischen Sparen und Schulden erreichte ihren Höhepunkt in Schäubles Auseinandersetzung mit seinem griechischen Amtskollegen Yanis Varoufakis im ersten Halbjahr 2015. Schäuble trieb das Duell mit Varoufakis so weit, dass Griechenland tatsächlich kurz vor dem Austritt aus der Eurozone stand. Im Rückblick hatten vielleicht beide Politiker Recht: Varoufakis konnte nicht erwarten, dass sein Amtskollege aus Berlin deutsche Steuerzahler zur Deckung griechischer Staatsschulden heranziehen würde. Schäubles Bestehen auf den Prinzipien der Währungsunion, die ein gegenseitiges Herauspauken der Staaten aus Schuldenproblemen verbot, stärkte möglicherweise langfristig die Glaubwürdigkeit der Eurozone und damit der gemeinsamen Währung. Trotzdem führte Schäubles strenge Haltung nicht nur zu viel sozialem Leid in Griechenland, sondern förderte auch die politische Radikalisierung, insbesondere in Südeuropa.

Schäuble äußerte sich später dazu: “Solange die Entscheidungen für Wirtschafts-, Finanz-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik in den Mitgliedstaaten getroffen werden – das kann man ändern, wenn man die Mehrheit dafür hat; diese haben wir aber derzeit nicht –, müssen die Mitgliedstaaten auch die Verantwortung für die Folgen ihrer Entscheidungen tragen. Sonst treffen sie die falschen Entscheidungen. Das ist kein Mangel an Solidarität, sondern die Voraussetzung dafür, dass wir in Europa Solidarität leisten.”

Letztendlich fanden weder Schäuble noch Merkel oder die EU-Kommission in Brüssel einen Ausweg aus der Eurokrise. Der damalige EZB-Präsident Mario Draghi rettete mit einer umfassenden Bestandsgarantie für den Euro (“What ever it takes”) die Eurozone. Dank Draghis Geldpolitik mit den darauffolgenden Niedrigzinsen konnte Schäuble seine Bundeshaushalte noch leichter ohne neue Schulden präsentieren.

Betrachtet man Schäubles Rolle als Finanzpolitiker, so scheint das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil zur Schuldenbremse vom 15. November 2023 sein politisches Vermächtnis festgeschrieben zu haben. Das höchste deutsche Gericht verpflichtete die Politik dazu, die von ihm so vorbildlich eingehaltene Schuldenbremse weiterhin zu berücksichtigen.

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